Mediation – wo sind die Wurzeln?

Schon häufiger habe ich in der letzten Zeit feststellen müssen, dass die Sozialwissenschaften, vor allem in der Kombination mit Wirtschaft, zusehends geschichtslos werden.
Methoden, Techniken, die als neu „verkauft“ werden, haben bei genauerer Überprüfung ihre Wurzeln in alten Erfahrungen der Menschen miteinander. So ist es mit neuen Moderationstechniken, mit Visualisierungstechniken, etc. Es fällt auf, dass diese Techniken und Methoden sehr häufig in der (kirchlichen) Jugend- und Erwachsenenbildung und –arbeit entwickelt wurden, dann über einen Umweg (häufig über Amerika) in die Wirtschaft Einzug halten und wir sie dann als NEU entdecken, als produktiv und effektiv, weil sie aus der Wirtschaft kommen. Fast alle Techniken und Methoden des Sozialen Management könnten wir darauf hin abklopfen, ob sie nicht früher schon, allerdings einfacher und vielleicht auch „hemdsärmeliger“ in der Kirchlichen Arbeit bekannt waren.
Begriffsreihen wie: „Situationsanalyse – Bewertung – Innovation“, früher als „Sehen – Urteilen – Handeln“, bekannt; oder Rückmelderunden in der Bildungsarbeit, heute als Evalua-tion bezeichnet; ziel- und lösungsorientiertes Arbeiten, wie es Steve deShazer und InsooKim Berg für die Beratung entwickelten, begegnet uns in der Organisationsentwicklung wieder, als „wertschätzende OE“, etc.
Ich denke, das Problem liegt in der Geschichtslosigkeit der Sozialpädagogik und ihrer Unterbereiche Jugend- und Erwachsenenbildung.
Was früher als Sozialkompetenzen bekannt war, nennt sich heute in der Organisationsentwicklung von Schulen und auch anderswo „Schlüssel-Qualifikationen“ und in der Wirtschaft „Soft-Skills“ (im Gegensatz zu „Hard-Skills“, den harten Daten und Fakten in der Wirtschaft). Es ist erstaunlich, dass alte Binsenweisheiten unserer „fachlichen“ Eltern für die Wirtschaft neu entdeckt werden, aber nicht mehr als das Alte wahrgenommen werden, weil alles, was früher schon galt, den Geruch von Moder haben könnte.
Ähnliches begegnet uns auch im Zusammenhang mit der „Mode“ der Mediation, wie sie in allen Bereichen von Organisationen aufscheint.
Mediation, so habe ich gelernt, ist weniger eine Technik als eine Haltung derer, die einen Konflikt schlichten wollen, eine Haltung, die auch den Konfliktparteien oder Konfliktpartnern/-innen im Mediationsverfahren näher gebracht werden soll, weil es eine Haltung ist, die zu Lösungen führt. Nicht die Techniken des Fragens sind es, sondern die Haltung, die wir uns aneignen, um auf den Konfliktpartner zuzugehen und gemeinsam um eine Lösung zu ringen, oder noch kürzer gesagt: Ethik des Handelns.
Einiges von dieser Haltung lässt sich mit Sicherheit in einem sehr alten Text finden, der aber leider für die Praxis der Zusammenlebens, Zusammenarbeitens und der Politik nicht als brauchbar und lebbar angesehen wurde und wird (wie schon Franz Alt in Frieden ist möglich aufgezeigt hat). Hier ist die Rede von der Bergpredigt. Die Haltung der Mediation ist eine zutiefst christliche Haltung, des Respekts voreinander, der Achtung füreinander und der Liebe und Solidarität.
Hier möchte ich eine „klassische Mediation“ beschreiben, die etwas später stattgefunden hat, aber noch lange vor dem großen Mediationsboom und die vielleicht noch etwas weniger differenziert abgelaufen ist. Aber das ist ja auch
Fortschritt, das sich die Techniken verfeinern. Und das kann man der Mediation und ihren „Findern“ durchaus nachsagen, verfeinert wurde die Technik sehr, das hat ihr sehr gut getan. Aber etwas Neues ist es nicht, und ich meine, wir sollten auch nicht so tun, als ob etwas neues erfunden worden wäre. Es ist etwas wiedergefunden worden, ausdifferenziert und bedacht, etwas, das sich bewährt hat, wurde neu entdeckt und weiterentwickelt. Das sollte doch auch eine Bestätigung für eine Methode sein, dass sie schon sehr lange gute Dienste erwiesen hat.
Nun aber zu meiner kleinen Geschichte, auf die ich bei einer Predigt gestoßen bin. Die Geschichte ist schon sehr alt, es ist eine Legende um den Hl. Franz von Assisi. (Predigt von Josef Werkstetter)
In einem Dorf, in das auch der Hl. Franz mit seinen Brüdern und Schwestern kam, herrschte große Angst und Sorge, weil ein Wolf das Dorf bedrohte, die Tiere riss und auch die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Als Franz in das Dorf Gubbio kam, klagten ihm die Menschen dort ihre Nöte und baten ihn, da er sich doch so gut mit Tieren verstand, mit dem Wolf zu verhandeln, dass er sie in Ruhe lassen sollte. Denn kriegerischer Einsatz gegen den Wolf hatte nichts gebracht, sie konnten ihn nicht töten und trauten sich nur noch in Gruppen auf die Straßen und auf die Felder.
Franz lies sich darauf ein mit dem Wolf zu verhandeln. Er ging mit seinen Brüdern und Schwestern hinaus um den Wolf zu treffen. Nach einer Zeit verließen ihn seine Gefährten/-innen, weil sie Angst bekamen und Franz ging allein weiter.
Und dann traf er den Wolf. Er sprach ihn an: Bruder Wolf, ich habe Dich gesucht. Die Menschen im Dorf haben große Angst vor Dir, Du bringt Unheil, frisst die Tiere, die auch die Menschen brauchen, weil auch sie Hunger haben. Du verbreitest Angst und Schrecken.
Aber ich sehe, dass Du in Not bist, dass Du Hunger hast. Ich schlage Dir einen Handel vor.
Die Menschen im Dorf werden Dich mit dem versorgen, was Du brauchst, wenn Du selber keine Nahrung findest, dafür musst Du aber sie selbst und ihre Tiere in Frieden lassen.
Der Wolf willigte in diesen Handel ein. Als Zeichen für diesen Vertrags-Abschluss reichte er Franz die Pfote und legte sie in die Hand von Franz.
Der Wolf, und auch die Bewohner/-innen von Gubbio hielten sich an diesen Handel. Wenn der Wolf nichts zu Fressen fand, ging er durch die Straßen des Dorfes, und die Menschen legten für ihn Nahrung vor die Türen, die er sich nehmen konnte. Als der Wolf nach vielen Jahren starb, waren die Menschen sogar ein wenig traurig, sosehr war er ein Teil ihrer Gemeinschaft geworden.
In der Predigt, von der ich oben sprach, wurde diese Geschichte eher tiefenpsychologisch ausgelegt: wie es ist, wenn wir den Wolf in uns selbst verdrängen oder nicht bezwingen, wenn wir nicht mit dem Wolf in uns freundschaftlich umgehen, ihn nicht anerkennen. Dies ist sicherlich ein wichtiger Gesichtspunkt, vor allem auch deshalb, weil er für die Konfliktschlichtung, wie ich sie nun beschreiben möchte, auch von Bedeutung ist.
In einem Dorf, in das auch der Hl. Franz mit seinen Brüdern und Schwestern kam, herrschte große Angst und Sorge, weil ein Wolf das Dorf bedrohte, die Tiere riss und auch die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Als Franz in das Dorf Gubbio kam, klagten ihm die Menschen dort ihre Nöte und baten ihn, da er sich doch so gut mit Tieren verstand, mit dem Wolf zu verhandeln, dass er sie in Ruhe lassen sollte.
Denn kriegerischer Einsatz gegen den Wolf hatte nichts gebracht, sie konnten ihn nicht töten und trauten sich nur noch in Gruppen auf die Straßen und auf die Felder.
Einleitung der Mediation: Es gibt einen klaren Auftrag an einen neutralen Dritten (Franz), jemanden der über- oder allparteilich sein kann, weil er nicht in den Konflikt involviert ist, weil er neu in die Situation hineinkommt, keine gemeinsame Geschichte mit der einen oder anderen Konfliktpartei hat.
Franz ließ sich darauf ein mit dem Wolf zu verhandeln. Er ging mit seinen Brüdern und Schwestern hinaus um den Wolf zu treffen. Nach einer Zeit verließen ihn seine Gefährten/-innen, weil sie Angst bekamen und Franz ging allein weiter.
Und dann traf er den Wolf. Er sprach ihn an: „Bruder Wolf, ich habe Dich gesucht!“
Franz spricht den Wolf mit Bruder an. Er signalisiert ihm, dass er ihn als Partner im Gespräch, und wohl auch im Leben allgemein sieht. Er gesteht ihm zu, ein gleichberechtigter Teil der Schöpfung Gottes zu sein, kein Unterwesen, sondern ein Wesen, dem man Achtung und Respekt entgegenbringen kann. Die Einhaltung der Menschenrechte (hier wohl eher der Rechte von Tieren) ist ein wesentlicher Ausgangspunkt für das Gelingen von Mediation. Und er sagt dem Wolf, dass er ihn gesucht hat, dass er sich extra auf den Weg gemacht hat, um ihm entgegenzukommen, ihm die Gelegenheit zu geben, auch seine Sicht vom Konflikt darzustellen. Wir wissen nicht, was der Wolf genau gesagt hat, aber Franz fasst die Situation der Dorfbevölkerung zusammen, spiegelt deren ihre Emotionen:
„Die Menschen im Dorf haben große Angst vor Dir, Du bringst Unheil, frisst die Tiere, die die Menschen brauchen, weil auch sie Hunger haben. Du verbreitest Angst und Schrecken.“
Franz hört sich dann wohl auch die Situation des Wolfs an, hört sich seine Sicht des Konflikts an, oder ahnt sie vielleicht auch eher. In manchen Situationen muss der/die Schlichter/-in erst dazu helfen, die richtigen Worte zu finden, weil Zorn, Angst und Verletzungen so groß sind, dass der Konfliktpartei die Worte fehlen. Genau wissen wir es nicht, aber er fasst auch die Sicht des Wolfs zusammen, spiegelt seine Situation und die Emotionen:
„Aber ich sehe, dass Du in Not bist, dass Du Hunger hast. Du schleichst Dich nachts ins Dorf, weil Du Angst hast, die Menschen könnten Dich töten.“
Franz bietet dem Wolf (und damit auch den Dorfbewohnern/-innen) einen Ausweg an:
„Ich schlage Dir einen Handel vor.
Die Menschen im Dorf werden Dich mit dem versorgen, was Du brauchst, wenn Du selber keine Nahrung findest, dafür musst Du aber sie selbst und ihre Tiere in Frieden lassen.“
Franz scheint wohl autorisiert gewesen zu sein, für das Dorf den Handel abzumachen. Sicherlich hat er sich die Situation genau erzählen lassen. Er scheint die Ressourcen im Dorf zu kennen, er weiß, was er anbieten kann (und was nicht).
Der Wolf willigte in diesen Handel ein.
Als Zeichen für diesen Vertrags-Abschluss reichte er Franz die Pfote und legte sie in die Hand von Franz.
Es kommt zu einem Vertragsabschluß, der offiziell besiegelt wird.
Im weiteren Verlauf der Geschichte können wir ablesen, dass auch die Dorfbewohner/-innen eingewilligt haben, sie erfüllen ihre Verpflichtung.
Der Wolf, und auch die Bewohner/-innen von Gubbio hielten sich an diesen Handel. Wenn der Wolf nichts zu Fressen fand, ging er durch die Straßen des Dorfes, und die Menschen legten für ihn Nahrung vor die Türen, die er sich nehmen konnte. Als der
Wolf nach vielen Jahren starb, waren die Menschen sogar ein wenig traurig, sosehr war er ein Teil ihrer Gemeinschaft geworden.
Und es geschieht ein kleines Wunder der Versöhnung. Als nach Jahren der Wolf stirbt, trauern die Menschen um ihn, weil er ein Teil von ihrer Gemeinschaft geworden war, weil sie ihn kennenlernen konnten, sie ihm und er ihnen vertraut geworden ist, ein Freund und Partner werden konnte.
Dieses Vertrauen in den neuen Zustand, die Versöhnung wurde durch Mediation eingeleitet. Vielleicht ist das Wort Mediation deshalb dem Wort „Meditation“ so ähnlich, weil es diesen Prozess wohl auch braucht. Sich auf sich, seine Emotionen, Bedürfnisse, Interessen zu besinnen, sich zu besinnen und an sich herankommen lassen, in sich aufnehmen können, dass auch der Konflikt-Partner ein Subjekt ist, nicht mehr nur Objekt meiner Wut und meines Kampfes, sondern Subjekt im Handeln und in der Solidarität, die aus der Gemeinschaft erwachsen kann.
Dazu gehört Vertrauen in sich selbst, auch Gott-Vertrauen: dass die Schöpfung sein und unser Vertrauen und Entgegenkommen verdient, wir uns darauf einlassen können, miteinander zu handeln, miteinander zu leben und auch immer wieder Frieden schließen zu können.
Und sicherlich liegt die Wurzel dafür in der Botschaft Jesu, in der Bergpredigt, die durchaus lebbar ist, wenn wir sie ernstnehmen und wirklich eine bessere Welt wollen.
Das ist eine der Grundannahmen der Mediation: „Die Streitenden sind grundsätzlich bereit, an der Konfliktlösung mitzuarbeiten.“
Jedes Vermeiden und jede Angst: „Das geht ja doch nicht.“ „Der andere will ja gar nicht.“ sollte darauf geprüft werden, ob ich selber will. Das gilt auch für die (Un- )Möglichkeit einer Umsetzung der Bergpredigt. Wir müssen den anderen schon auch zutrauen, so wie uns selbst, dass wir eine friedlichere Welt und Gesellschaft wollen, und wir müssen wohl auch oft den ersten Schritt dazu tun.


Gabriele Pinkl, 22. Juli 2002